Über das Projekt
Abstract zum Projekt Historische Ungerechtigkeit und veränderte Umstände
Laufzeit 2.10.2017 - 1.10.2022
Der Vergangenheit zu begegnen bleibt ein wichtiges Problem. Vergangenes Unrecht hinterlässt häufig deutliche Spuren in der Gegenwart; viele Personen und Gruppen haben Nachteile aufgrund der fortwährenden Wirkungen historischen Unrechts. Entschädigung ist in vielen Fällen weder den Opfern des Unrechts noch ihren Nachfahren gewährt worden. Ungerechtigkeit dauert an, wenn Exil, traumatische Erfahrungen, Schädigungen des kollektiven Selbstverständnisses, Misstrauen und Auseinandersetzungen über sog. heilige Orte die Folge sind.
Aus welchen Gründen sollten wir uns mit vergangenem Unrecht auseinandersetzen und sind Gerechtigkeitsüberlegungen hierfür relevant? Sollen wir uns aus Gründen der Gerechtigkeit um Schäden kümmern, die eine Gruppe oder eine Person in der Vergangenheit durch Unrecht erlitten haben, auch wenn es der Gruppe oder der Person heute gut geht, oder sollte Gerechtigkeit zukunftsorientiert sein und sich nur um gegenwärtige Nachteile kümmern? Wie wichtig sind aus der Perspektive der Gerechtigkeit die Beziehungen zwischen den Opfern und Tätern und ihren Nachfahren und ist Versöhnung ein Ziel? Wenn unter einigen Umständen eine Vergangenheitsorientierung angemessen ist und unter anderen Umständen eine Zukunftsorientierung, gemäß welcher Prinzipien sollen wir diese Orientierungen wählen und gegebenenfalls, dann nämlich, wenn die Umstände relevant andere sind, wechseln?
Um diese Fragen zu beantworten, untersuchen und entwickeln wir die These, dass historisches Unrecht aufgehoben werden kann. Wenn es z.B. ungerecht war, indigene Völker 1865 von ihrem Land zu vertreiben, dann könnte es wegen veränderter Umstände – man denke an Entwicklung der Bevölkerung und geänderte Umweltbedingungen – 2016 ungerecht sein, das Land und die Ressourcen an die indigenen Völker zurückzugeben. Die vom Rechtsphilosophen Jeremy Waldron so genannte Aufhebungsthese ist extrem einflussreich unter Theoretikern/innen, gleich ob sie Reparationen für historisches Unrecht befürworten oder eher ablehnen. Was aber sind mögliche plausible Interpretationen der Aufhebungsthese? Wie kann Unrecht in verschiedenen Kontexten und mit Blick auf spezifische Fälle als aufgehoben gelten? Vier verschiedene Typen von Aufhebung werden im Projekt untersucht, nämlich mit Bezug auf (1) Eigentum, (2) besondere Beziehung zu einem Land in Fällen von Vertreibung, Genozid und Besetzung, (3) Gruppen-Identität und (4) Souveränität. Die Prinzipien, die wir entwickeln und unsere Urteile mit Blick auf spezifische Fälle mögen nicht in Übereinstimmung sein. Dann gilt es die Prinzipien und die Urteile so zu ändern, dass wir ein Überlegungsgleichgewicht erreichen, indem die Prinzipien die Urteile erklären und rechtfertigen können.
Eine unserer Arbeitshypothesen ist, dass die Aufhebungsthese dem Problem der moralischen Versuchung ausgesetzt ist. Wenn veränderte Umstände die Gerechtigkeitsansprüche verändern, dann gibt es einen verkehrten Anreiz, nämlich mit ungerechten Mitteln die Umstände zu ändern. Außerdem nehmen wir an, dass Gruppenrechte anzuerkennen sind, wenn Versöhnung nicht wirklich möglich ist. Unser Ziel ist, eine Aufhebungstheorie zu entwickeln, welche den gegenwärtigen Bedürfnissen und historischen Ansprüchen ebenso Rechnung trägt wie der strukturellen Gerechtigkeit in den Beziehungen heute und zukünftig Lebender.
Endbericht
Hauptziel des FWF-Projekts "Die Aufhebung historischen Unrechts und veränderte Umstände" war es, die Aufhebungsthese (von Jeremy Waldron formuliert) kritisch weiterzuentwickeln und ihre Relevanz für das Verständnis bestimmter Fälle von historischem Unrecht zu untersuchen. Die Struktur der Aufhebungsthese lautet wie folgt: Wenn ein historisches Unrecht auftritt, das zu einer ungerechten Situation führt, können im Laufe der Zeit moralisch relevante Veränderungen der Umstände eintreten, so dass Gerechtigkeit keine Rückkehr zur vorherigen Situation erfordert. In unserem Projektvorschlag unterschieden wir zwei Möglichkeiten, die Aufhebungsthese zu verstehen und zu untersuchen: Erstens fragten wir nach der zeitlichen Orientierung der Gerechtigkeit. Zweitens untersuchten wir Jeremy Waldrons besondere Konzeption der Aufhebung. Zu Beginn dieses Projekts untersuchten wir eine klassische Version der Aufhebungsthese, der zufolge Bedürftigkeitssituationen die zeitliche Ausrichtung des Rechts verschieben können: von einer rückwärtsgerichteten zu einer vorwärtsgerichteten Ausrichtung. Im Laufe des Projekts haben wir jedoch festgestellt, dass die Behauptung, rückwärts gerichtete Gründe der ausgleichenden Gerechtigkeit seien in gegenwärtigen Bedürftigkeitssituationen moralisch nicht mehr relevant, unzutreffend ist. Wir haben auch herausgestellt, dass Jeremy Waldrons Arbeit zur Aufhebung sich hauptsächlich auf die Restitution konzentriert, welche die Rückgabe der ursprünglich genommenen Sache erfordert. Wir haben seine Anwendung auf Fragen der Entschädigung, der Gruppenidentität, der Souveränität, der Rechte zukünftiger Menschen, der sprachlichen Ungerechtigkeit, der Klimagerechtigkeit und ihrer Beziehung zu strukturellen Ungerechtigkeiten ausgedehnt. Die wichtigsten theoretischen Beiträge dieses Forschungsprojekts zu diesem Bereich sind die folgenden: Meyer und Waligore unterscheiden zwischen Fällen, in denen historische Ansprüche bei der Bestimmung dessen, was der Fall sein sollte, kein Gewicht haben, und solchen, in denen es zwar ungerecht sein mag, zu dem Zustand vor dem Unrecht zurückzukehren, dies aber nicht bedeutet, dass die Auswirkungen des historischen Unrechts vollständig aufgehoben werden. Sie unterscheiden auch zwischen Fällen, in denen Ansprüche auf Wiedergutmachung historischen Unrechts zu einem bestimmten Zeitpunkt ruhen, aber in der Zukunft relevant werden können, und Fällen, in denen die Aufhebung endgültig ist. Sie dehnen die Analyse der Aufhebungsthese von Restitutionsansprüchen auf Entschädigungsansprüche aus. Sie weisen auch auf zwei weitere Forschungsbereiche hin: symbolische Entschädigung für verstorbene Opfer historischen Unrechts und die Beziehung zwischen der Aufhebungsthese und dem strukturellen Charakter historischen Unrechts. In diesem Sinne hat Lukas Meyer heutige Forderungen der Restitution kultureller kolonialer Güter analysiert. Timothy Waligore vertrat außerdem die Ansicht, dass der Ansatz der strukturellen Ungerechtigkeit eine stärker rückwärtsgewandte zeitliche Ausrichtung der Gerechtigkeit haben könnte. Santiago Truccone-Borgogno unterschied zwischen Fällen, in denen Pflichten, die sich aus vergangenen Ungerechtigkeiten ergeben, ihr moralisches Gewicht verlieren, und solchen, in denen Rechte (aber nicht Pflichten) aufhören zu existieren. Er zeigte auch, dass Gruppen nicht aufhören zu existieren, wenn sich die Umstände auf ihre Identität auswirken, und dass die Rechte zukünftiger Menschen aufgehoben werden können. Seung Hyun Song weitete die Aufhebungsthese auf Fragen der sprachlichen Ungerechtigkeit aus.